Samstag, 10. Juni 2006

»Kurt Tucholsky — aus (immer) aktuellem anlass«

mein beitrag zur neuerlichen patriotismus-debatte stammt nicht von mir, sondern von Kurt Tucholsky, der nicht nur in ganz rechten kreisen bis heute als prototyp des »nestbeschmutzers« gilt und auf den personen jeglicher politischer couleur allzu gerne abheben, wenn es um rede und gegenrede zu fragen des »deutschen wesens« geht. dabei wird kaum wahrgenommen bzw. gern übersehen, dass Tucholsky — ebenso wie Heine, Kästner, Brecht... — ein patriot im besten sinne dieses wortes gewesen ist. wenn es überhaupt einen patriotismus gibt, zu dem ich mich uneingeschränkt bekennen könnte, dann ist es der kritische patriotismus dieses wohl scharfsinnigsten beobachters der deutschen zustände und befindlichkeiten.

Kurt Tucholsky

Heimat

    »Aber einen Trost hast du immer, eine Zuflucht, ein Wegschweifen. Selbst auf Umgebungsflachheiten stehen Bäume, Wasseraugen schimmern dich an, Horizonte sind weit, und auch durch düstere Verhängung kommt noch Feldatem.«
    Alfons Goldschmidt, »Deutschland heute«
Nun haben wir auf 225 Seiten Nein gesagt, Nein aus Mitleid und Nein aus Liebe, Nein aus Haß und Nein aus Leidenschaft — und nun wollen wir auch einmal Ja sagen. Ja —: zu der Landschaft und zu dem Land Deutschland.

Dem Land, in dem wir geboren sind und dessen Sprache wir sprechen.

Der Staat schere sich fort, wenn wir unsere Heimat lieben. Warum grade sie — warum nicht eins von den andern Ländern —? Es gibt so schöne.

Ja, aber unser Herz spricht dort nicht. Und wenn es spricht, dann in einer andern Sprache — wir sagen »Sie« zum Boden; wir bewundern ihn, wir schätzen ihn — aber es ist nicht das.

Es besteht kein Grund, vor jedem Fleck Deutschlands in die Knie zu sinken und zu lügen: wie schön! Aber es ist da etwas allen Gegenden Gemeinsames — und für jeden von uns ist es anders. Dem einen geht das Herz auf in den Bergen, wo Feld und Wiese in die kleinen Straßen sehen, am Rand der Gebirgsseen, wo es nach Wasser und Holz und Felsen riecht, und wo man einsam sein kann; wenn da einer seine Heimat hat, dann hört er dort ihr Herz klopfen. Das ist in schlechten Büchern, in noch dümmeren Versen und in Filmen schon so verfälscht, daß man sich beinah schämt, zu sagen: man liebe seine Heimat. Wer aber weiß, was die Musik der Berge ist, wer die tönen hören kann, wer den Rhythmus einer Landschaft spürt ... nein, wer gar nichts andres spürt, als daß er zu Hause ist; daß das da sein Land ist, sein Berg, sein See — auch wenn er nicht einen Fuß des Bodens besitzt ... es gibt ein Gefühl jenseits aller Politik, und aus diesem Gefühl heraus lieben wir dieses Land.

Wir lieben es, weil die Luft so durch die Gassen fließt und nicht anders, der uns gewohnten Lichtwirkung wegen — aus tausend Gründen, die man nicht aufzählen kann, die uns nicht einmal bewußt sind und die doch tief im Blut sitzen.

Wir lieben es, trotz der schrecklichen Fehler in der verlogenen und anachronistischen Architektur, um die man einen weiten Bogen schlagen muß; wir versuchen, an solchen Monstrositäten vorbeizusehen; wir lieben das Land, obgleich in den Wäldern und auf den öffentlichen Plätzen manch Konditortortenbild eines Ferschten dräut — laß ihn dräuen, denken wir und wandern fort über die Wege der Heide, die schön ist, trotz alledem.

Manchmal ist diese Schönheit aristokratisch und nicht minder deutsch; ich vergesse nicht, daß um so ein Schloß hundert Bauern im Notstand gelebt haben, damit dieses hier gebaut werden konnte — aber es ist dennoch, dennoch schön. Dies soll hier kein Album werden, das man auf den Geburtstagstisch legt; es gibt so viele. Auch sind sie stets unvollständig — es gibt immer noch einen Fleck Deutschland, immer noch eine Ecke, noch eine Landschaft, die der Fotograf nicht mitgenommen hat ... außerdem hat jeder sein Privat-Deutschland. Meines liegt im Norden. Es fängt in Mitteldeutschland an, wo die Luft so klar über den Dächern steht, und je weiter nordwärts man kommt, desto lauter schlägt das Herz, bis man die See wittert. Die See — Wie schon Kilometer vorher jeder Pfahl, jedes Strohdach plötzlich eine tiefere Bedeutung haben ... wir stehen nur hier, sagen sie, weil gleich hinter uns das Meer liegt — für das Meer sind wir da. Windumweht steht der Busch, feiner Sand knirscht dir zwischen den Zähnen ...

Die See. Unvergeßlich die Kindheitseindrücke; unverwischbar jede Stunde, die du dort verbracht hast — und jedes Jahr wieder die Freude und das »Guten Tag!« und wenn das Mittelländische Meer noch so blau ist ... die deutsche See. Und der Buchenwald; und das Moos, auf dem es sich weich geht, daß der Schritt nicht zu hören ist; und der kleine Weiher, mitten im Wald, auf dem die Mücken tanzen — man kann die Bäume anfassen, und wenn der Wind in ihnen saust, verstehen wir seine Sprache. Aus Scherz hat dieses Buch den Titel »Deutschland, Deutschland über alles« bekommen, jenen törichten Vers eines großmäuligen Gedichts. Nein, Deutschland steht nicht über allem und ist nicht über allem — niemals. Aber mit allen soll es sein, unser Land. Und hier stehe das Bekenntnis, in das dieses Buch münden soll:

Ja, wir lieben dieses Land.

Und nun will ich euch mal etwas sagen:

Es ist ja nicht wahr, daß jene, die sich »national« nennen und nichts sind als bürgerlich-militaristisch, dieses Land und seine Sprache für sich gepachtet haben. Weder der Regierungsvertreter im Gehrock, noch der Oberstudienrat, noch die Herren und Damen des Stahlhelms allein sind Deutschland. Wir sind auch noch da.

Sie reißen den Mund auf und rufen: »Im Namen Deutschlands ...!« Sie rufen: »Wir lieben dieses Land, nur wir lieben es.« Es ist nicht wahr.

Im Patriotismus lassen wir uns von jedem übertreffen — wir fühlen international. In der Heimatliebe von niemand — nicht einmal von jenen, auf deren Namen das Land grundbuchlich eingetragen ist. Unser ist es.

Und so widerwärtig mir jene sind, die — umgekehrte Nationalisten — nun überhaupt nichts mehr Gutes an diesem Lande lassen, kein gutes Haar, keinen Wald, keinen Himmel, keine Welle — so scharf verwahren wir uns dagegen, nun etwa ins Vaterländische umzufallen. Wir pfeifen auf die Fahnen — aber wir lieben dieses Land. Und so wie die nationalen Verbände über die Wege trommeln — mit dem gleichen Recht, mit genau demselben Recht nehmen wir, wir, die wir hier geboren sind, wir, die wir besser deutsch schreiben und sprechen als die Mehrzahl der nationalen Esel — mit genau demselben Recht nehmen wir Fluß und Wald in Beschlag, Strand und Haus, Lichtung und Wiese: es ist unser Land. Wir haben das Recht, Deutschland zu hassen — weil wir es lieben. Man hat uns zu berücksichtigen, wenn man von Deutschland spricht, uns: Kommunisten, junge Sozialisten, Pazifisten, Freiheitliebende aller Grade; man hat uns mitzudenken, wenn »Deutschland« gedacht wird ... wie einfach, so zu tun, als bestehe Deutschland nur aus den nationalen Verbänden.

Deutschland ist ein gespaltenes Land. Ein Teil von ihm sind wir.

Und in allen Gegensätzen steht — unerschütterlich, ohne Fahne, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalität und ohne gezücktes Schwert — die stille Liebe zu unserer Heimat.

(aus: Deutschland, Deutschland über alles. Ein Bilderbuch von Kurt Tucholsky und vielen Fotografen, montiert von John Heartfield. Berlin: Neuer Deutscher Verlag, 1929. [Reprint: Reinbek: Rowohlt, 1980; hg. und mit Erl. versehen von Fritz J. Raddatz] S. 226-231 — im original gesperrte textstellen werden durch fettschrift wiedergegeben.)

vor nicht allzu langer zeit hat uns eine der großen werbeagenturen dieses landes mit einer unsäglichen kampagne überzogen, der sich eine breite diskussion über patriotismus anschloss, die jedoch ins unerträgliche anschwoll, als einige, die ihre geschichtslektionen besonders sorgfältig gelernt und verinnerlicht zu haben meinten, darauf hinwiesen, der slogan »du bist deutschland« sei dem braunen volksgemeinschaftsgeist entsprungen und allein dadurch schon diskreditiert. — o selige einfalt! — wie aber soll man mit leuten diskutieren, die nicht einmal vom »du« zum »ich«, geschweige denn zum »wir« zu denken und auf das wort »deutschland« wie pawlowsche hunde nur mit reflexartigem geifern zu reagieren imstande sind? — wenn schon die (pseudo-)linken ihren Tucholsky nicht mehr kennen, kann man ihn (oder auch Heine, Kästner, Brecht...) solchen verkorksten gehirnen dann überhaupt noch ernsthaft zur lektüre empfehlen? und mit welchem ziel, wenn doch schon einfache transferleistungen wie die eben genannten offenbar zu viel verlangt sind?

ich erdreiste mich keiner antwort auf diese fragen — den vorhang aber lasse ich gerne offen für alle, die guten willens und in der lage sind, sich konstruktiv zu äußern (eine echte reifeprüfung in zeiten des allgegenwärtigen sarkasmus, mit dem wir uns das weltgeschehen — und, wie ich befürchte, zunehmend auch uns selbst und die jeden von uns direkt betreffenden dinge — zu betrachten angewöhnt haben).

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blue sky - 13. Jun, 16:20

Vielen Dank für diesen großartigen Text, ich kannte ihn noch nicht. Eine bewundernswert klare Haltung - tut gut im Moment, wo angesichts der WM und allgegenwärtiger Fahnen wieder vieles in einen Topf geworfen wird.

abundant

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