Dienstag, 8. Mai 2007

»eine frage der wahrnehmung«

im sommer letzten jahres traf ich Gott in mehlem. er stand wie ich am bahnsteig, und da er sah, dass ich rauchte, kam er auf mich zu und bat mich um feuer. ich gab es ihm, und nachdem er sich seine selbstgedrehte zigarette angezündet hatte, sah er mich an, hustete und deutete dabei auf meine reisetasche. »na, sind Sie schon auf der flucht?«, sagte er und fuhr fort, ohne eine antwort abzuwarten: »das ist gut, wissen Sie, ich habe nämlich beschlossen, das rheinland untergehen zu lassen.« sein mund qualmte dramatisch. »ja, der rhein wird sich über seine ufer erheben und dieses verdorbene land überschwemmen.« und wie zur entschuldigung setzte er hinzu: »von koblenz bis nach köln.« ich lächelte unsicher und versuchte, meine ratlosigkeit dadurch zu kaschieren, dass ich einen langen zug an meiner zigarette nahm, um anschließend den rauch betont langsam auszuatmen. jaja, dachte ich bei mir, wir wissen ja beide, dass zwischen koblenz und köln nicht nur bonn liegt, nicht wahr? er sah mich schweigend an, dann lächelte er. »lustig, dass Sie das erwähnen, da komme ich nämlich gerade her«, sagte er. »ähm …«, setzte ich an, aber er unterbrach mich: »das müssen Sie sich vorstellen« – er blickte an mir vorbei, als spräche er zu dem rauch, der zwischen uns aufstieg – »die haben mich einfach dort eingesperrt. die haben mir nicht geglaubt.« er hustete kurz. »nicht an mich geglaubt«, präzisierte er. »diese kleingeister. und meine freundin« – sein mund zitterte – »meine freundin sitzt da immer noch.« die zigarette entglitt seinen fingern und landete auf dem boden. »verbrecher«, schrie er plötzlich so laut, dass ich zusammenzuckte, »elendes pack.« seine stimme überschlug sich. »aber wartet. meine rache wird furchtbar werden. der fluss wird sich erheben. kein stein wird auf dem anderen bleiben.« wow, dachte ich, Gottes freundin. kein wunder, dass der sich so aufregt. seine grauen, wässrigen augen fixierten mich. mir wurde mulmig. was hatte ich doch gleich über den umgang mit verrückten gelesen? am besten defensiv verhalten, nicht auf sie eingehen, und vor allem keine widerworte geben, wenn sie sich in rage geredet haben. also schwieg ich und hielt mich betont lässig an meiner kippe fest, die schon fast bis zu den fingerspitzen abgebrannt war. »es ist schon gut«, sagte er mit einem mal so ruhig, dass es mir angst machte, wobei er den blick nicht von mir abwandte. »aber sehen Sie zu, dass Sie sich in sicherheit bringen. das hier ist verdorbenes land.« hustete kurz, drehte sich um und ging. ich seufzte erleichtert auf. ein paar schritte von mir entfernt raschelte eine zeitung, ich blickte auf. der mann, der sie hielt, sah mich abschätzig an, als wäre ich für den verrückten verantwortlich. als wäre ich selbst der verrückte. ich starrte zurück und grinste, so lange, bis er sich mit einem leisen grummeln wieder seiner morgenlektüre zuwandte. mich in sicherheit bringen, dachte ich. eigentlich keine schlechte idee. ich schnippte die zigarette ins gleisbett.

Gott sagt, ich soll aus bonn weggehen, simste ich einem freund von unterwegs. der zug war wie jeden freitagmorgen so voll, dass man in den gängen stehen musste, weil nicht einmal im bereich der türen noch ein platz frei war. als dicker mann mit reisetasche kam ich mir bei jedem halt wie ein hindernis vor, ein gefühl von minderwertigkeit, das ich in all den jahren nicht zu verdrängen gelernt hatte. gäbe es die möglichkeit der teleportation, ich wäre mit sicherheit ein begeisterter nutzer. wahrscheinlich, überlegte ich, würden sie für leute mit übergröße zuschläge erheben. andererseits gäbe es vermutlich sowas wie vielfliegerrabatte. und konkurrierende unternehmen, die sich gegenseitig im preis unterbieten, so wie heute in der stromversorgung oder im telefongeschäft. es gäbe business-tarife für pendler und öko-tarife für umweltbewusste, billigteleporter aus taiwan für den hausgebrauch mit gefälschten tüv-plaketten, und jede woche mindestens eine neue horrormeldung in der boulevardpresse: »teleporter defekt! mann in hund verwandelt!« – »schwupps, da war die oma weg!« – »der hightech-mörder: entsorgte er seine opfer via teleporter?« – »papst warnt: seele nicht teleportierbar!« es gäbe sekten, die »reinkarnation schon zu lebzeiten« anböten und auf diese weise »ewiges leben« garantieren könnten. und so etwas wie körpertourismus: »verbringen Sie drei wochen im körper einer frau!« – »wollten Sie schon immer wissen, wie man sich als baum fühlt?« ungeahnte möglichkeiten für psychotherapeuten und esoteriker aller art – und natürlich für die seriöse medizin: tumore z.b. könnten einfach »weggebeamt« werden. überflüssige pfunde natürlich auch. womit sich das problem der übergewichtigkeit elegant lösen ließe. und ich müsste keinen zuschlag zahlen. ich seufzte. schade, bislang dachte ich immer, ich sei ein zuspätgeborener. jetzt muss ich einsehen, dass das gegenteil der fall ist: ich bin zu früh geboren – um ein paar hundert jahre zu früh. die welt ist ungerecht und ich ein eskapist vor dem Herrn. mein handy piepte. ach!, simste der freund zurück. na prima, dachte ich, noch einer, der mich für verrückt hält.

ich kannte mal einen, der hielt sich zeitweise für einen engel, kam es mir in den sinn, als ich in koblenz stand und auf meinen bus wartete. eigentlich ist so eine psychose ja ein tragisches schicksal, aber immer, wenn ich diese geschichte zum besten gab, amüsierten sich die leute. Steffen, so hieß der gute, war ein unauffälliger typ, gesund bis dahin, kein künstler, hatte freunde, stammte aus gutbürgerlichen verhältnissen, nahm keine drogen, war mit sich selbst, soweit man das von außen beurteilen konnte, im reinen und hatte gerade sein zimmer im studentenwohnheim bezogen, da hörte er eines morgens im flur leise harfentöne. er ging dem geräusch nach bis zu einer tür, die einen spalt weit offen stand, und durch diesen spalt spähend sah er einen jungen mann, der auf einem bett saß und tatsächlich auf einer großen konzertharfe spielte. in diesem moment, erzählte mir Steffen, sei ihm plötzlich und unhinterfragbar klar gewesen, dass dieser junge mann ein engel sein müsse – und er selbst folglich, da er ihn ja wahrnahm, entweder tot, was für ihn jedoch zweifellos auszuschließen war, oder selbst ein engel, denn engel erkennen ihresgleichen auf anhieb. diese erkenntnis habe ihn so überwältigt, dass er die tür weit aufgestoßen habe und dem jungen mann mit einem freudigen »bruder!« um den hals gefallen sei. dass diese freude nicht eben erwidert wurde, kann man sich vorstellen, aber es dauerte eine ganze weile, bis Steffen selbst einsah, dass es eine dritte deutungsmöglichkeit gab, die er nicht in erwägung gezogen hatte: dass er verrückt sein könnte. bis er zu dieser erkenntnis gelangte, hatte ihn die andere jedoch beinahe das leben gekostet. tagelang hatte er nichts gegessen – engel brauchen ja keine nahrung –, nur still in seinem zimmer gehockt und weiterer himmlischer offenbarungen geharrt, die sich aufgrund seiner zunehmenden körperlichen entkräftung quasi zwangsläufig einstellten. bis ihn die freundlichen männer in den weißen kitteln abholten, war er in der hierarchie seiner neuen geistigen welt längst vom engel zum gottessohn aufgestiegen. den jungen mann mit der harfe gab es übrigens wirklich: er war musikstudent, und aus seiner sicht war der bizarre kommilitone, der ihn bei seinen morgendlichen etüden gestört hatte, kein verrückter, sondern einer, der wohl ein pfeifchen zu viel geraucht hatte. die erkenntnis, die er aus dem vorfall zog, war, nur noch bei geschlossener tür dem musikspiel zu frönen. es waren die eltern, die schließlich für Steffens einweisung sorgten.

es ist eben alles eine sache der wahrnehmung, dachte ich, während ich vor der bushaltestelle gemächlich auf- und abschritt, deshalb ist das wort »verrückt« eigentlich ganz zutreffend. es ist die wahrnehmung der welt und meiner selbst in der welt, die verrückt. aber auf der basis dieser wahrnehmung – und eine alternative dazu gibt es ja nicht, zumindest keine, die man frei wählen könnte – funktioniert alles nach logischen gesichtspunkten. Steffens wahrnehmung beruhte auf der prämisse, dass vor ihm ein engel saß – also musste er selbst ein engel sein. der mann in mehlem ging davon aus, dass er Gott ist – also steht es in seiner macht, das rheinland untergehen zu lassen. von koblenz bis nach köln zumindest. was passiert wohl, wenn er herausfindet, dass das mit dem rheinlanduntergehenlassen leichter gesagt als getan ist? seine welt fußt ja nunmal auf der prämisse, dass er Gott ist. wird er sich selbst in frage stellen? das hätte durchaus etwas charmantes – ein Gott, der sich selbst verneint. oder wird er sich schlicht darauf besinnen, dass er seine rolle als rachsüchtiger allvater eigentlich schon vor zweitausend jahren abgelegt und sich in das gewand des gutmütigen, nachsichtigen, christlichen Gottes gekleidet hat?

freilich gäbe es, überlegte ich, als ich im bus über die montabaurer höhe schaukelte, noch eine andere deutungsmöglichkeit. ich betrachte den mann aus mehlem als verrückten, da seine wahrnehmung der welt und seiner selbst eine andere ist als die meine, natürlich in dem bewusstsein, dass ich mich mit meiner einschätzung im stillschweigenden einverständnis mit der mehrheit, sagen wir mal, der weltbevölkerung befinde. aber was heißt das schon. ich neige ja auch dazu, mich selbst in bestimmten situationen als hindernis für andere wahrzunehmen, ohne auch nur einen dieser anderen zu fragen, ob er mich ebenfalls so wahrnimmt. und überhaupt: ist dieser minderwertigkeitskomplex nicht auch nur eine form von egozentrik, eines sich-selbst-zu-wichtig-nehmens? und dafür, dass meine selbstwahrnehmung nicht unbedingt mit der wahrnehmung meiner selbst durch andere übereinstimmt, gibt es ja zahlreiche beispiele. also ist die frage, wodurch mein selbstbild eigentlich gestützt wird. eine antwort darauf könnte lauten: in erster linie dadurch, wie ich selbst andere wahrnehme. wenn ich einen dicken mann mit reisetasche in einem engen gang stehen sehe, erscheint er mir als hindernis – aber das muss ja nicht auf die mehrheit der möglichen betrachter zutreffen. eine weitere antwort wäre: mein selbstbild wird gestützt durch meine eigene lebenserfahrung – dass ich also schon mal in ähnlichen zusammenhängen die erfahrung gemacht habe, von anderen z.b. als hindernis wahrgenommen worden zu sein, eben weil sie sich entsprechend geäußert haben (auch so ein schöner begriff: »sich äußern«) oder ich ihre äußerungen, ein aufstöhnen, ein augenverdrehen, entsprechend interpretiert habe. überhaupt ist die interpretation des wahrgenommenen ja ein ganz entscheidender faktor, nicht wahr? Steffen sieht einen jungen mann, der harfe spielt, und interpretiert ihn als engel. der mann in mehlem wird vielleicht eine ähnliche erfahrung gemacht haben, die ihn dazu veranlasst hat zu glauben, dass er Gott ist (auch schön: ein Gott, der sich selbst erst erkennen muss, der erst an sich selbst glauben lernen muss). vielleicht ist ihm einmal ein wunsch, kaum dass er ihn ausgesprochen hat, in erfüllung gegangen. vielleicht hat er gelernt, dass er weiterkommt, wenn er sich mehr auf sich selbst als auf Gott verlässt, und daraus die erkenntnis gezogen, dass er selbst Gott sein muss. was aber berechtigt mich dazu, meine wahrnehmung und interpretation der welt über diejenige von Steffen und diejenige des mannes aus mehlem zu stellen? klar, in Steffens fall gibt es fakten, mit denen sich seine interpretation in zweifel ziehen lässt: dass der junge mann ein musikstudent war und dass er selbst fast zugrunde gegangen wäre. und der mann in mehlem? was spricht dagegen, dass er Gott ist? will sagen, mir fehlen die fakten, um dagegen argumentieren zu können. ich kann nur glauben, dass er es nicht ist, wohingegen er jederzeit den beweis dafür antreten kann, dass er es ist. bis dahin aber ist völlig unentschieden, wessen welt und wahrnehmung hier eigentlich die verrückte oder verrücktere ist: seine oder meine.

als ich in montabaur ankam, hatte ich bereits den entschluss gefasst, den beweis nicht abzuwarten. ein paar monate später – das rheinland war zwar nicht untergegangen, aber Gottes wege sind ja, wie man sagt, unergründlich – zog ich nach berlin um.

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