in memoriam

Dienstag, 21. Februar 2006

»die spieluhr Heine«

»Wir leben in einer Zeit der Mysterien, wo freundschaftliche Besprechungen unter Ehrenleuten nothwendig sind, um der schleichenden Verleumdung hohlköpfiger armer Sünder nicht bloßgestellt zu seyn.«

[Heinrich Heine in einem brief an Felix Bamberg; paris, 4. februar 1852]


dieses neckische ding ist eine spieluhr – oder wie der fachmann sagen würde: ein handkurbel-spielwerk –, das ich im sommer 1994 in rüdesheim erworben habe, einem dieser rhein-wein-örtchen, die gemeinhin als »romantisch« gelten, weshalb dort zu jeder jahreszeit hordenweise touris aus aller welt einfallen, um die straßen zu verstopfen, die cafés zu fluten und kitsch aus chinesischen souvenirfabriken zu erwerben. doch grollen möchte ich ihnen nicht, den spurensuchern der rheinromantik, war ich doch damals[TM] selbst einer, mit meiner ersten freundin auf der ersten längeren tour mit meinem ersten eigenen auto. o wunder der jugend! o wellen des rheins! o brummen des motors! (ein toyota starlet, baujahr 82 übrigens, und eigentlich dröhnte er mehr als dass er brummte - o verklärende erinnerung!)

»und du / neuer gedanke!« von der »lust des beginnens«, die herr Brecht so trefflich besungen hat, war in rüdesheim nichts zu spüren. dominant erschien mir dort eher die längst zur routine gewordene lust an der wiederholung des immergleichen - aber gut, was ist romantik letztlich schon anderes? Heine an jeder straßenecke, hier und da ein japanisches juxgrüppchen, das vom weingeist befreit »ich weiß nicht, was soll es bedeuten« bis zur unkenntlichkeit zersang (sie hatten's faustig hinter den ohren, jaja). Heine und »die lore-ley« - zuweilen befürchte ich, dass am ende doch noch die berühmt-berüchtigte deutsche weinseligkeit dichter und werk verschlingen wird: »und das hat mit seinem singen / der männerchor getan«. darüber kann man geteilter ansicht sein (kulturpessimisten sind schisser, das weiß ich von mir selbst nur zu gut). Enno Stahl vom düsseldorfer Heine-institut etwa mutmaßte jüngst im Deutschlandfunk-»Büchermarkt«:

»Heine hätte das sicher nicht gestört, sagte er doch von sich: ›Ich bin kein Gelehrter, ich selber bin Volk.‹ Gerade diese Volkstümlichkeit, die seinen Gedichten, seiner Prosa eigen ist, hat ihn zu Deutschlands zweitgrößtem, für manche gar größtem Dichter gemacht, je nach politischer Couleur des Betrachters. Volkstümlich, das bedeutet bei Heine zeitlos und zugänglich. Nicht zuletzt deswegen wird er heute noch viel gelesen.«

[zum nachhören hier; zitat nach transkript]

folklorisierung, damit hat Stahl (wenn ich ihn mal so interpretieren darf) zweifellos recht, ist noch immer die beliebteste wund- und heilsalbe (achtung! Adorno von links!). auch das mag Heiner Müller – ohne Heine genausowenig denkbar wie Brecht, Biermann und überhaupt der größte teil nicht nur der satiriker, lyriker und liedermacher des deutschen 20. und 21. jahrhunderts – vor augen gehabt haben, als er in seiner grandiosen büchnerpreisrede von 1985 konstatierte: »DIE WUNDE HEINE beginnt zu vernarben, schief« – wohlgemerkt: vernarben, nicht verheilen. Heine, die schiefe narbe, der schmiss im antlitz der deutschen, der Moby Dick unter den walen, haien und kleinen fischen der literaturgeschichte, der nicht nur zu lebzeiten kontrovers diskutierte, verfemte und zugleich legendäre dichter unbekannt und sinnbild des armen poeten (der er de facto nicht gewesen ist) – ja, wenn man's recht betrachtet (und darauf wollen die germanisten Stahl und Schneider ja auch hinaus): Heine, der sperrigste dichter und scharfzüngigste, ätzendste kritiker seiner zeit, ist längst popularisiert, populär ohnehin, ist, kurz gesagt, pop. versöhnt mit allen, ist er einer jener brüder, von denen Thomas Mann sagte: »Der Bursche ist eine Katastrophe; das ist kein Grund, ihn als Charakter und Schicksal nicht interessant zu finden«, und: »Ein etwas unangenehmer und beschämender Bruder; er geht einem auf die Nerven, es ist eine reichlich peinliche Verwandtschaft«, was ihn jedoch zu dem schluss verleitete: »Ich will trotzdem die Augen nicht davor schließen, denn [...] besser, aufrichtiger, heiterer und produktiver als der Haß ist das Sich-wieder-Erkennen, die Bereitschaft zur Selbstvereinigung mit dem Hassenswerten [...].« der, den er mit diesen beißend ironischen zeilen, geschrieben am vorabend des zweiten weltkriegs, meinte, war Hitler - noch so eine nicht verheilende wunde, noch so ein schmiss, den man mit allen nur möglichen kosmetischen mitteln zu verdecken, wenn nicht gar den ganzen wahrlich katastrophalen burschen zu folklorisieren sucht.

»mein lieber scholli, herr abundant, Hitler und Heine in einem atemzug nennen, geht denn das?«, höre ich da jemanden fragen. klar geht das, sag ich, wenn auch etwas zu weit: denn nicht die beiden miteinander zu vergleichen ist mein ziel (das wäre ja auch völliger humbug), sondern dem sozialpsychologischen mechanismus nachzuspüren, der scheinbar zuverlässig immer dann greift, wenn ein missliebiges subjekt eine derartige präsenz zeitigt, dass man es schlichtweg weder ignorieren noch leugnen kann: folklorisierung, popularisierung - nennt es, wie ihr wollt, jedenfalls einverleibung im sinne eben jener »selbstvereinigung mit dem hassenswerten«, die herr Mann meint und die im späteren umgang mit Hitler wahlweise zu dämonisierung, verharmlosung oder verspottung und im umgang mit Heine zur verniedlichung geführt hat. auf menschlicher ebene derselbe mechanismus, der uns dazu verleitet, uns einen entwurf von jemandem zu machen und dann - aus hass oder liebe - zu sorgen, dass er ihm ähnlich werde: »›Wer? Der Entwurf?‹ ›Nein‹, sagte Herr K., ›Der Mensch.‹« (Brecht, aus derselben sammlung wie dies hier) der mechanismus der kompensation auf das als politische floskel so beliebte »sozialverträgliche maß«, das uns (»lieb vaterland, magst ruhig sein«) friedlich schlafen lässt (no Marx intended!) - ein soziokulturelles phänomen.

auf Heine bezogen - und bevor ich hier gänzlich abschweife - heißt das: »die loreley« ist harmlos genug (nicht wirklich harmlos, wenn man sich das gedicht mal genauer anschaut, aber eben harmlos genug), um der folklorisierung des dichters ein portal zu bieten, sie ist konsumentenfreundlich, singbar zudem, männergesangvereinskompatibel und damit per se das »verträgliche maß«, auf das sich der liebe Heine verniedlichen lässt. »deutschland. ein wintermärchen« ist es nicht (böser Heine!), obwohl Biermann wirklich (wenn auch, wie stets, in anderer, eigener absicht) sein bestes versucht hat (s.o.). und doch hilft uns die Silcher-melodei von der fischerverschlingenden blonden sirene auf dem schroffen felsen, auch den satiriker und nimmermüden deutschlandkritiker Heine mit einem gelassenen lächeln zu kompensieren, ihm ein plätzchen im kanon, in der gruft der deutschen dichter und denker zuzuweisen. alle paar jahre schaut man mal nach, wie weit der verwesungsprozess fortgeschritten ist, huldigt den gebeinen, konstatiert zum xtenmal, dass »die deutschen mit XYZ frieden geschlossen haben«, und dankt artig fürs da- oder vorbild-gewesen-sein. natürlich geht es bei der ganzen chose letztlich nur um selbstbestätigung, jenes »sich-wieder-erkennen«, von dem Thomas Mann spricht - was ich im übrigen weder übermäßig kritisieren, noch mich selbst davon ausnehmen möchte.

»und wie halten Sie's mit dem gedenken, herr abundant?« nunja, ich mag diesen festtagsrummel nicht, dieses gewese um irgendwelche geburts- oder todestage, auch wenn ich einsehe, dass sie eine nicht unwichtige funktion erfüllen. aber ganz ohne souvenirs geht es auch für mich nicht - und ging es schon damals in rüdesheim nicht. davon zeugt die oben abgebildete spieluhr, die ja hier nicht nur als sinnbild der folklorisierung und wiederholung des immergleichen steht, sondern sehrwohl etwas mit dem thema (was war es doch gleich? achja: Heine!) zu tun hat. wer draufklickt, weiß mehr! ;o)

diese spieluhr steht auf meinem schreibtisch, und oft, wenn ich in einer arbeit feststecke, das gefühl habe, nicht von der stelle zu kommen, oder zu viele dinge auf einmal erledigen muss, drehe ich ein paarmal die kurbel, mal schneller, mal langsamer, und lausche den klängen: »ich weiß nicht, was soll es bedeuten«. ich gestehe: diese wiederholung der immergleichen melodie hat eine ungeheuer beruhigende wirkung!

Samstag, 15. Januar 2005

»sag zum abschied leise servus«

Wolfgang Harrer, journalist und tsunami-blogger des ZDF, verabschiedet sich:
»Zwei Wochen lang hatte ich das Privileg, in Asien, Europa und Amerika herumzutelefonieren, um mir ein eigenes Bild von der Tsunami-Katastrophe und ihren möglichen Folgen zu machen. Mit einer guten Kaffeemaschine ausgestattet und auf der Suche nach Informationen, verbrachte ich täglich 18 oder noch mehr Stunden im Netz. Der Alltag stand still, Briefe und Rechnungen liegen noch ungeöffnet auf dem Schreibtisch. Die Januar-Miete ging zum Glück per Dauerauftrag ‘raus, andernfalls hätte ich sie erstmals glatt vergessen. Ab heute kehre ich nun aber in die derzeit von so vielen Leitartiklern beschworene Normalität zurück und stelle fest: Sie passt nicht mehr.«
danke, herr Harrer, für das privileg, zwei wochen lang Ihre exzellente berichterstattung verfolgen zu dürfen! :o)

bleibt zu hoffen, dass wir Sie bald wieder in der blogosphäre begrüßen dürfen - und dass es dazu nicht erst einer weiteren katastrophe bedarf!

Montag, 1. November 2004

nachtrag: »über Tadeusz Borowski«

mag sein, der vorige eintrag bedarf der ergänzung:

Tadeusz Borowski wurde am 12. november 1922 in schitomir (ukraine) geboren und kam mit seiner familie 1933 nach polen. er betätigte sich als bauarbeiter, holte 1940 sein abitur nach und studierte an der untergrund-universität warschau literaturwissenschaft, bevor er 1943 als widerstandskämpfer inhaftiert und nach auschwitz verschleppt wurde. dort arbeitete er unter anderem im sogenannten "kanada-kommando", das die aufgabe hatte, die besitztümer der zur vergasung selektierten zu sortieren, sowie im häftlingskrankenbau. seine befreiung erlebte Borowski, nach verlegung in mehrere andere kzs, schließlich durch den einmarsch der amerikanischen truppen am 29.04.1945 in dachau. nach einjährigem aufenthalt in münchen kehrte er 1946 nach polen zurück. seine erlebnisse und erfahrungen verarbeitete er literarisch in einer reihe von kurzgeschichten, die zunächst in zeitschriften und schließlich 1947 und 1948 in zwei erzählbänden erschienen. am 1. juli 1951 nahm sich Tadeusz Borowski in warschau das leben. [biographische daten nach folgenden quellen: wikipedia (leider nicht ganz zuverlässig), NZZ sowie das nachwort von Andrzej Wirth zu T.B., »Bei uns in Auschwitz«]

Borowskis werk gehört zu den eindrücklichsten und in seinem scheinbar zynischem duktus erschreckendsten zeugnissen der sogenannten holocaustliteratur. in einem beitrag des ORF (radio österreich 1) heißt es dazu treffend:
»Nur wenige schilderten die Tragödie der "verlorenen Generation" von Besatzung und Krieg so eindringlich und unsentimental wie Tadeusz Borowski. Seine Erfahrungen als Häftling in Auschwitz beschrieb er in scheinbar zynischen Untertönen, oft aus der Perspektive der Lager-Kapos, die sowohl Opfer als auch Täter waren, eine Welt, in der die alten Werte zusammenbrechen und jeder nur noch das eigene Überleben zu sichern sucht.«
Borowski selbst äußerte sich über seinen literarischen ansatz wie folgt:
»Stimmt, ich könnte auch lügen, mich der uralten Mittel bedienen, die der Literatur gegeben sind, wenn sie sich den Anschein geben will, die Wahrheit zu sagen; aber dazu fehlt mir die Phantasie.«
weitere ausschnitte aus Borowskis erzählungen finden sich z.b. hier.

p.s.: warum dieses posting? nun, z.b. um "argumentationen" dieser art, die auf das unwissen und die sensationslüsternheit ihrer leser spekulieren, etwas wirkungsvolles entgegen zu setzen. kein raum den rechten tatsachenverdrehern!
und wer tatsächlich überrascht ist von der tatsache der von Borowski erwähnten bordelle oder arrestzellen für "zivile" in auschwitz, muss sich leider den vorwurf gefallen lassen, sich aus faulheit oder desinteresse bislang nicht informiert zu haben - denn quellen dafür gibt es seit 1945 massenhaft! dass diese und ähnliche tatsachen eben nicht im widerspruch zur vernichtungsmaschinerie der nationalsozialistischen lager stehen, sondern im gegenteil wohlkalkulierter bestandteil des systems waren, auch davon handeln die berichte Borowskis und anderer überlebender (etwa Primo Levi, Imre Kertèsz, Jorge Semprun, Eugen Kogon, Nico Rost oder Paul Steinberg). man muss sie nur lesen wollen!

»... daß wir uns zur Verteidigung der Toten erheben müssen.«

Heute ist Sonntag. Vor dem Mittagessen waren wir spazieren, sahen uns von oben den Versuchsblock mit den Frauen an (sie steckten die Köpfe durch die Gitter, genau wie die Kaninchen meines Vaters, das weißt Du doch noch, grau waren sie, mit einem heruntergeklappten Ohr), danach haben wir uns den SK- [Strafkompanie-; d. Bearb.] Block angesehen (unten im Hof ist die schwarze Mauer, vor der früher mal die Menschen erschossen wurden, heute machen sie es leiser und diskreter – im Krematorium). Wir erblickten ein paar Zivilisten: zwei verängstigte Frauen in Pelzmänteln und einen Mann mit zerknittertem übernächtigten Gesicht. Ein SS-Mann begleitete sie – hab keine Angst –, sie wurden nur in die hiesige Arrestzelle gebracht, vorübergehend, es ist im SK-Block. Die Frauen betrachteten erstaunt die Menschen in den gestreiften Anzügen und die eindrucksvollen Lagereinrichtungen: die hohen Häuser, den doppelten Stacheldraht, die Mauer hinter den Drähten, die soliden Wachttürme. Wenn sie wüßten, daß die Mauer zwei Meter tief in die Erde reicht – so sagt man wenigstens –, damit sie nicht untergraben werden kann! Wir lächelten ihnen zu, weil es doch eine Komödie ist: Ein paar Wochen brummen sie, und dann sind sie frei. Es sei denn, man könnte ihnen wirklich nachweisen, daß sie Schwarzhandel getrieben haben. Dann allerdings wandern sie ins Krematorium. Diese Zivilisten sind komische Leute. Sie reagieren beim Anblick des Lagers wie die Wildschweine beim Anblick einer Feuerwaffe. Sie verstehen nichts vom Mechanismus unseres Lebens und wittern dahinter etwas Unwahrscheinliches, etwas Mystisches, etwas, was über menschliche Kräfte geht. Weißt Du noch, wie Du Dich überrascht hingesetzt hast, als man Dich verhaftete? Du hast es mir selbst geschrieben. Ich habe damals bei Maria den ›Steppenwolf‹ gelesen (die hatte auch alle möglichen Bücher), aber ich weiß nicht mehr genau, wie es alles war.

Heute sind wir mit dem Unwahrscheinlichen, dem Mystischen, auf du und du. Das Krematorium gehört zu unserem täglichen Brot, es gibt Tausende Fälle von Phlegmonen und Tuberkulose, wir wissen, was Wind und Regen ist, Sonne und Brot und Rübensuppe und Arbeit, wir wissen, wie man es macht, daß man nicht erwischt wird, wir kennen Unfreiheit und Obrigkeit, weil wir – sozusagen – gut Freund mit der Bestie sind, und daher sehen wir die von draußen ein bißchen herablassend an, wie ein Gelehrter einen Laien, wie ein Geweihter den Profanen.

Versuche einmal, den täglichen Geschehnissen ihre Alltäglichkeit zu nehmen, denke Dir die Ungläubigkeit weg und den Ekel und die Verachtung, und dann finde für das Ganze eine philosophische Formel. Für Gas und Gold, für Appelle und den Puff, für die Zivilisten und die alten Nummern.

Hätte ich Dir gesagt, damals, als wir beide in meiner kleinen Kammer tanzten, unter der orangefarbenen Lampe, nimm eine Million Menschen, nimm zwei Millionen Menschen oder drei Millionen und töte sie, aber so, daß niemand etwas davon erfährt, selbst die Getöteten nicht, nimm einige hunderttausend Menschen gefangen, brich ihr Solidaritätsgefühl, hetze einen Menschen auf den anderen Menschen und... Du hättest mich glatt für verrückt erklärt und wahrscheinlich sogar aufgehört, mit mir zu tanzen. Ich hätte es natürlich niemals gesagt, auch dann nicht, wenn ich damals schon ein Lager gekannt hätte, denn damit hätte ich die Stimmung verdorben.

Und hier, schau: zuerst eine gewöhnliche Scheune, weiß gestrichen und – darin werden Menschen vergast. Dann vier größere Gebäude – zwanzigtausend, wie ein Kinderspiel. Ohne Zauber, ohne Giftmischerei, ohne Hypnose. Ein paar Kerle, die den Verkehr regeln, damit es keine Stauungen gibt, und die Menschen fließen dahin wie Wasser aus dem aufgedrehten Wasserhahn. Das alles geschieht unter ein paar blutarmen Bäumchen eines schütteren, verqualmten Waldes. Gewöhnlich bringen schwere Lastwagen die Menschen heran, kehren um wie auf einem Fließband und bringen neue. Ohne Zauber, ohne Giftmischerei, ohne Hypnose.

Wie kommt es, daß keiner aufschreit, niemand einem ins Gesicht spuckt, niemand sich auflehnt ? Wir ziehen unsere Mützen vor den SS-Männern, wenn sie fertiggezählt haben und aus dem Wald zurückkommen, wir gehen mit ihnen in den Tod und – nichts! Wir hungern, wir stehen im Regen, man nimmt uns unser Liebstes. Siehst Du, das ist die Mystik. Das ist die sonderbare Macht eines Menschen über einen anderen. Die wilde Überrumpelung, die keiner brechen kann. Und die einzige Waffe, die wir haben, ist unsere Zahl – wir sind zu viele, die Kammern fassen uns nicht.

Oder noch anders: einen Spatenstiel in die Gurgel, und hundert Menschen pro Tag. Oder Suppe aus Brennesseln, Brot mit Margarine, danach ein junger SS-Mann mit einem zerknitterten Papierchen in der Pranke, eine Nummer, in den Arm tätowiert, und dann ein Laster, einer von denen... […]

… ich weiß, daß Deine Freundinnen, die mit Dir zusammen auf der Pritsche liegen, sich über meine Worte wundern werden. »Du hast doch gesagt, Dein Tadek sei ein gemütlicher, heiterer Bursche. Und da schau mal, was er für düstere Sachen sagt.« Bestimmt sind sie mir böse. Aber man kann doch reden über das, was um uns herum geschieht. Wir sind es doch nicht, die das Böse leichtfertig und unverantwortlich heraufbeschwören, wir stecken doch mittendrin...

[…]

Sieh Dir das alles an, und verliere nicht den Mut, wenn es Dir schlecht geht.

Denn es könnte ja sein, daß wir einmal darüber berichten müssen, daß wir einmal den Lebenden Rechenschaft abgeben müssen und daß wir uns zur Verteidigung der Toten erheben müssen.

Früher einmal marschierten wir im Kommando ins Lager zurück. Und ein Orchester spielte dazu schmissige Märsche. Dann kamen DAW [Deutsche Ausrüstungswerke, ein SS-Wirtschaftsbetrieb; d. Bearb.] und andere Kommandos und warteten vor dem Tor; zehntausend Männer. Gerade in dem Augenblick rollten Lastwagen vom Frauen-KZ herüber und brachten nackte Frauen. Die Frauen rangen die Hände und riefen:

»Helft uns! Rettet uns! Wir werden vergast! Hilfe!«

Und sie fuhren an uns vorüber – an zehntausend schweigenden Männern. Kein Mensch rührte sich, keine Hand hob sich. Weil die Lebenden immer recht haben und die Toten nie.

[ Tadeusz Borowski: Bei uns in Auschwitz…, aus dem gleichnamigen erzählband. münchen, zürich: piper, 1982. s. 148-151, s. 154. ]

Allerheiligen - zeit, unserer toten zu gedenken...

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