»... daß wir uns zur Verteidigung der Toten erheben müssen.«
Heute ist Sonntag. Vor dem Mittagessen waren wir spazieren, sahen uns von oben den Versuchsblock mit den Frauen an (sie steckten die Köpfe durch die Gitter, genau wie die Kaninchen meines Vaters, das weißt Du doch noch, grau waren sie, mit einem heruntergeklappten Ohr), danach haben wir uns den SK- [Strafkompanie-; d. Bearb.] Block angesehen (unten im Hof ist die schwarze Mauer, vor der früher mal die Menschen erschossen wurden, heute machen sie es leiser und diskreter – im Krematorium). Wir erblickten ein paar Zivilisten: zwei verängstigte Frauen in Pelzmänteln und einen Mann mit zerknittertem übernächtigten Gesicht. Ein SS-Mann begleitete sie – hab keine Angst –, sie wurden nur in die hiesige Arrestzelle gebracht, vorübergehend, es ist im SK-Block. Die Frauen betrachteten erstaunt die Menschen in den gestreiften Anzügen und die eindrucksvollen Lagereinrichtungen: die hohen Häuser, den doppelten Stacheldraht, die Mauer hinter den Drähten, die soliden Wachttürme. Wenn sie wüßten, daß die Mauer zwei Meter tief in die Erde reicht – so sagt man wenigstens –, damit sie nicht untergraben werden kann! Wir lächelten ihnen zu, weil es doch eine Komödie ist: Ein paar Wochen brummen sie, und dann sind sie frei. Es sei denn, man könnte ihnen wirklich nachweisen, daß sie Schwarzhandel getrieben haben. Dann allerdings wandern sie ins Krematorium. Diese Zivilisten sind komische Leute. Sie reagieren beim Anblick des Lagers wie die Wildschweine beim Anblick einer Feuerwaffe. Sie verstehen nichts vom Mechanismus unseres Lebens und wittern dahinter etwas Unwahrscheinliches, etwas Mystisches, etwas, was über menschliche Kräfte geht. Weißt Du noch, wie Du Dich überrascht hingesetzt hast, als man Dich verhaftete? Du hast es mir selbst geschrieben. Ich habe damals bei Maria den ›Steppenwolf‹ gelesen (die hatte auch alle möglichen Bücher), aber ich weiß nicht mehr genau, wie es alles war.
Heute sind wir mit dem Unwahrscheinlichen, dem Mystischen, auf du und du. Das Krematorium gehört zu unserem täglichen Brot, es gibt Tausende Fälle von Phlegmonen und Tuberkulose, wir wissen, was Wind und Regen ist, Sonne und Brot und Rübensuppe und Arbeit, wir wissen, wie man es macht, daß man nicht erwischt wird, wir kennen Unfreiheit und Obrigkeit, weil wir – sozusagen – gut Freund mit der Bestie sind, und daher sehen wir die von draußen ein bißchen herablassend an, wie ein Gelehrter einen Laien, wie ein Geweihter den Profanen.
Versuche einmal, den täglichen Geschehnissen ihre Alltäglichkeit zu nehmen, denke Dir die Ungläubigkeit weg und den Ekel und die Verachtung, und dann finde für das Ganze eine philosophische Formel. Für Gas und Gold, für Appelle und den Puff, für die Zivilisten und die alten Nummern.
Hätte ich Dir gesagt, damals, als wir beide in meiner kleinen Kammer tanzten, unter der orangefarbenen Lampe, nimm eine Million Menschen, nimm zwei Millionen Menschen oder drei Millionen und töte sie, aber so, daß niemand etwas davon erfährt, selbst die Getöteten nicht, nimm einige hunderttausend Menschen gefangen, brich ihr Solidaritätsgefühl, hetze einen Menschen auf den anderen Menschen und... Du hättest mich glatt für verrückt erklärt und wahrscheinlich sogar aufgehört, mit mir zu tanzen. Ich hätte es natürlich niemals gesagt, auch dann nicht, wenn ich damals schon ein Lager gekannt hätte, denn damit hätte ich die Stimmung verdorben.
Und hier, schau: zuerst eine gewöhnliche Scheune, weiß gestrichen und – darin werden Menschen vergast. Dann vier größere Gebäude – zwanzigtausend, wie ein Kinderspiel. Ohne Zauber, ohne Giftmischerei, ohne Hypnose. Ein paar Kerle, die den Verkehr regeln, damit es keine Stauungen gibt, und die Menschen fließen dahin wie Wasser aus dem aufgedrehten Wasserhahn. Das alles geschieht unter ein paar blutarmen Bäumchen eines schütteren, verqualmten Waldes. Gewöhnlich bringen schwere Lastwagen die Menschen heran, kehren um wie auf einem Fließband und bringen neue. Ohne Zauber, ohne Giftmischerei, ohne Hypnose.
Wie kommt es, daß keiner aufschreit, niemand einem ins Gesicht spuckt, niemand sich auflehnt ? Wir ziehen unsere Mützen vor den SS-Männern, wenn sie fertiggezählt haben und aus dem Wald zurückkommen, wir gehen mit ihnen in den Tod und – nichts! Wir hungern, wir stehen im Regen, man nimmt uns unser Liebstes. Siehst Du, das ist die Mystik. Das ist die sonderbare Macht eines Menschen über einen anderen. Die wilde Überrumpelung, die keiner brechen kann. Und die einzige Waffe, die wir haben, ist unsere Zahl – wir sind zu viele, die Kammern fassen uns nicht.
Oder noch anders: einen Spatenstiel in die Gurgel, und hundert Menschen pro Tag. Oder Suppe aus Brennesseln, Brot mit Margarine, danach ein junger SS-Mann mit einem zerknitterten Papierchen in der Pranke, eine Nummer, in den Arm tätowiert, und dann ein Laster, einer von denen... […]
… ich weiß, daß Deine Freundinnen, die mit Dir zusammen auf der Pritsche liegen, sich über meine Worte wundern werden. »Du hast doch gesagt, Dein Tadek sei ein gemütlicher, heiterer Bursche. Und da schau mal, was er für düstere Sachen sagt.« Bestimmt sind sie mir böse. Aber man kann doch reden über das, was um uns herum geschieht. Wir sind es doch nicht, die das Böse leichtfertig und unverantwortlich heraufbeschwören, wir stecken doch mittendrin...
[…]
Sieh Dir das alles an, und verliere nicht den Mut, wenn es Dir schlecht geht.
Denn es könnte ja sein, daß wir einmal darüber berichten müssen, daß wir einmal den Lebenden Rechenschaft abgeben müssen und daß wir uns zur Verteidigung der Toten erheben müssen.
Früher einmal marschierten wir im Kommando ins Lager zurück. Und ein Orchester spielte dazu schmissige Märsche. Dann kamen DAW [Deutsche Ausrüstungswerke, ein SS-Wirtschaftsbetrieb; d. Bearb.] und andere Kommandos und warteten vor dem Tor; zehntausend Männer. Gerade in dem Augenblick rollten Lastwagen vom Frauen-KZ herüber und brachten nackte Frauen. Die Frauen rangen die Hände und riefen:
»Helft uns! Rettet uns! Wir werden vergast! Hilfe!«
Und sie fuhren an uns vorüber – an zehntausend schweigenden Männern. Kein Mensch rührte sich, keine Hand hob sich. Weil die Lebenden immer recht haben und die Toten nie.
[ Tadeusz Borowski: Bei uns in Auschwitz…, aus dem gleichnamigen erzählband. münchen, zürich: piper, 1982. s. 148-151, s. 154. ]
Allerheiligen - zeit, unserer toten zu gedenken...
Heute sind wir mit dem Unwahrscheinlichen, dem Mystischen, auf du und du. Das Krematorium gehört zu unserem täglichen Brot, es gibt Tausende Fälle von Phlegmonen und Tuberkulose, wir wissen, was Wind und Regen ist, Sonne und Brot und Rübensuppe und Arbeit, wir wissen, wie man es macht, daß man nicht erwischt wird, wir kennen Unfreiheit und Obrigkeit, weil wir – sozusagen – gut Freund mit der Bestie sind, und daher sehen wir die von draußen ein bißchen herablassend an, wie ein Gelehrter einen Laien, wie ein Geweihter den Profanen.
Versuche einmal, den täglichen Geschehnissen ihre Alltäglichkeit zu nehmen, denke Dir die Ungläubigkeit weg und den Ekel und die Verachtung, und dann finde für das Ganze eine philosophische Formel. Für Gas und Gold, für Appelle und den Puff, für die Zivilisten und die alten Nummern.
Hätte ich Dir gesagt, damals, als wir beide in meiner kleinen Kammer tanzten, unter der orangefarbenen Lampe, nimm eine Million Menschen, nimm zwei Millionen Menschen oder drei Millionen und töte sie, aber so, daß niemand etwas davon erfährt, selbst die Getöteten nicht, nimm einige hunderttausend Menschen gefangen, brich ihr Solidaritätsgefühl, hetze einen Menschen auf den anderen Menschen und... Du hättest mich glatt für verrückt erklärt und wahrscheinlich sogar aufgehört, mit mir zu tanzen. Ich hätte es natürlich niemals gesagt, auch dann nicht, wenn ich damals schon ein Lager gekannt hätte, denn damit hätte ich die Stimmung verdorben.
Und hier, schau: zuerst eine gewöhnliche Scheune, weiß gestrichen und – darin werden Menschen vergast. Dann vier größere Gebäude – zwanzigtausend, wie ein Kinderspiel. Ohne Zauber, ohne Giftmischerei, ohne Hypnose. Ein paar Kerle, die den Verkehr regeln, damit es keine Stauungen gibt, und die Menschen fließen dahin wie Wasser aus dem aufgedrehten Wasserhahn. Das alles geschieht unter ein paar blutarmen Bäumchen eines schütteren, verqualmten Waldes. Gewöhnlich bringen schwere Lastwagen die Menschen heran, kehren um wie auf einem Fließband und bringen neue. Ohne Zauber, ohne Giftmischerei, ohne Hypnose.
Wie kommt es, daß keiner aufschreit, niemand einem ins Gesicht spuckt, niemand sich auflehnt ? Wir ziehen unsere Mützen vor den SS-Männern, wenn sie fertiggezählt haben und aus dem Wald zurückkommen, wir gehen mit ihnen in den Tod und – nichts! Wir hungern, wir stehen im Regen, man nimmt uns unser Liebstes. Siehst Du, das ist die Mystik. Das ist die sonderbare Macht eines Menschen über einen anderen. Die wilde Überrumpelung, die keiner brechen kann. Und die einzige Waffe, die wir haben, ist unsere Zahl – wir sind zu viele, die Kammern fassen uns nicht.
Oder noch anders: einen Spatenstiel in die Gurgel, und hundert Menschen pro Tag. Oder Suppe aus Brennesseln, Brot mit Margarine, danach ein junger SS-Mann mit einem zerknitterten Papierchen in der Pranke, eine Nummer, in den Arm tätowiert, und dann ein Laster, einer von denen... […]
… ich weiß, daß Deine Freundinnen, die mit Dir zusammen auf der Pritsche liegen, sich über meine Worte wundern werden. »Du hast doch gesagt, Dein Tadek sei ein gemütlicher, heiterer Bursche. Und da schau mal, was er für düstere Sachen sagt.« Bestimmt sind sie mir böse. Aber man kann doch reden über das, was um uns herum geschieht. Wir sind es doch nicht, die das Böse leichtfertig und unverantwortlich heraufbeschwören, wir stecken doch mittendrin...
[…]
Sieh Dir das alles an, und verliere nicht den Mut, wenn es Dir schlecht geht.
Denn es könnte ja sein, daß wir einmal darüber berichten müssen, daß wir einmal den Lebenden Rechenschaft abgeben müssen und daß wir uns zur Verteidigung der Toten erheben müssen.
Früher einmal marschierten wir im Kommando ins Lager zurück. Und ein Orchester spielte dazu schmissige Märsche. Dann kamen DAW [Deutsche Ausrüstungswerke, ein SS-Wirtschaftsbetrieb; d. Bearb.] und andere Kommandos und warteten vor dem Tor; zehntausend Männer. Gerade in dem Augenblick rollten Lastwagen vom Frauen-KZ herüber und brachten nackte Frauen. Die Frauen rangen die Hände und riefen:
»Helft uns! Rettet uns! Wir werden vergast! Hilfe!«
Und sie fuhren an uns vorüber – an zehntausend schweigenden Männern. Kein Mensch rührte sich, keine Hand hob sich. Weil die Lebenden immer recht haben und die Toten nie.
[ Tadeusz Borowski: Bei uns in Auschwitz…, aus dem gleichnamigen erzählband. münchen, zürich: piper, 1982. s. 148-151, s. 154. ]
Allerheiligen - zeit, unserer toten zu gedenken...
abundant - 1. Nov, 11:59
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